dort #4 Frühling 2023

10.00 

Leseprobe

Das neue Heft kommt diesmal mit einer einzigen Novelle: „Der antennierte Riesenpapa“ von Farhad Babaei. Es spielt in der Zeit des Iran-Irak-Kriegs und danach. Eine wunderbare Erzählung. In kurzen Zügen erzählt der zehn jährige Farzin, ein Teheraner Junge, das Zeitgeschehen in der kleinen Nachbarschaft, in der er mit seiner Familie wohnt.

Um Mitternacht wurde Papas Radio wieder laut. Ich setzte mich auf und sah ihn an. Mit geschlossenen Augen hielt er das Radio an sein Ohr. Auf einmal dröhnte wieder die Luftabwehr. Ich dachte, hätten wir auf dem Dach geschlafen, hätte ich die Schüsse sehen können. Mama stand auf und nahm Fattane auf den Arm. Ihr Rock klebte an ihrem Bein. Die Beine waren nackt von den Füßen bis zum Knie. Die Bomber waren jetzt lauter als Papas Radio. Das Haus bebte unter unseren Füßen. Ich machte mir in die Hose. Mama schrie. Auf ihrem Arm fing Fattane an zu weinen. Mama rannte zur Haustür. Papas ließ seine Zigarette auf den Teppich fallen. Packte mich an der Hand. Ich hatte keine Socken an. Das Radio rutschte aus Papas Hand und stürzte zu unseren rasenden Füßen. Ich trat auf etwas Heißes. Zu viert standen wir im Flur. Die Haustür vor uns. Die Fensterscheiben zitterten. Papa war stumm. Mama schrie nicht länger. Ich sagte: Papa, Papa, der Bomber ist so nah. Papa umschloss mit seinen Armen meinen Hals. Fattane weinte auf Mamas Arm. Mama bedeckte Fattanes Kopf mit der Hand. Papa legte seine Hand auf meinen Kopf. Ich hielt Mamas Rock fest. Mama legte die andere Hand auf mein Gesicht und drückte mich an sich. Papa legte seine Stirn auf Mamas Kopf. Meine Fußsohlen brannten. Dann brannte es überall. Meine Zunge, meine Augen, mein Bauch. Das Tuch um Mamas Kopf fing Feuer. Sie brüllte und drehte sich im Kreis. Ein Pfeifton schallte in meinem Ohr. Es stürzten so viel Eisen und Beton auf uns, dass ich nicht mehr hatte die Augen öffnen können. (Der antennierte Riesenpapa; Kapitel 6)

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Illustration: Hossein Maktoufi

Format: 11,5 * 18,0 cm; 136 Seiten

Farzins Erzählung ist voller Lebenslust, voller Begierde und voller Ehrlichkeit. Manchmal emotional, ab und zu aber auch höchst rational. Seine aufrichtigen Betrachtungen nehmen uns mit nach Teheran, in die Welt der iranischen 70er und 80er Generationen. Generationen, die mitten im Krieg geboren wurden oder kurz davor. Generationen, die nach der Revolution 1979 geboren wurden oder kurz davor.

„Der antennierte Riesenpapa“ ist keine Geschichte. Nein. Vielmehr das absurde, düstere und seltsame Zeitvergehen in einer kleinen Nachbarschaft. Es ist keine Geschichte, sondern die Sehnsucht nach verlorenen Dingen. Eine groteske Darstellung dessen, was wir „Leben“ nennen.

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